„Ich habe heute noch kein Gefühl dafür, was zu laut ist“

Die Studentin Julia Sommer bietet seit diesem Semester einen Gebärdensprachkurs an. Ihre Eltern sind gehörlos. Wie war es, so aufzuwachsen? Ein Familiengespräch

Protagonistin Julia Sommer zeigt die internationale Gebärde für „Ich liebe dich"
Julia Sommer ist Mitglied des KASPARLayout-Teams. Hier zeigt sie die internationale Gebärde für „Ich liebe dich"

Das Interview findet in Julias WG-Zimmer in Ansbach statt. Ihre Eltern wohnen in Berlin-Pankow und sind per Zoom zugeschaltet, jeder vor seinem eigenen Bildschirm. Ihre Mutter sitzt vor dem Wohnzimmerschrank, ihr Vater auf der Couch. Julias Eltern sind von Geburt an gehörlos. Ihre Mutter Doreen Sommer, 49, ist gelernte Gärtnerin und arbeitet als Reinigungskraft. Ihr Vater Jörg Sommer, 65, war Mechaniker und ist heute im Ruhestand.

KASPAR: Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt, Frau und Herr Sommer?
Julia übersetzt die Frage in Gebärdensprache und die Antworten ihrer Eltern zurück ins gesprochene Deutsch.
Doreen Sommer: Wir haben uns 1997 auf einer Faschingsparty das erste Mal gesehen. Die wurde von einem Gehörlosenverein in Berlin organsiert. Später bin ich dann zum Tischtennis-Training, weil ich ganz genau wusste, dass Jörg dort spielt, seit er klein ist. So haben wir uns richtig kennengelernt.
Jörg Sommer: Es gibt viele Sportvereine für Gehörlose. Das ist für viele eine gute Gelegenheit, sich kennenzulernen.

KASPAR: Vier Jahre nach dieser Party kam Julia zur Welt. Julia, wie wächst man als Kind von gehörlosen Eltern auf, wie lernt man eigentlich sprechen?
Julia: Man wächst nicht in einem Keller auf. Meine Großeltern haben direkt in unserer Nähe gewohnt. Von ihnen habe ich ganz normal Deutsch gelernt und natürlich auch im Kindergarten. Meine Eltern haben mir gleichzeitig die Gebärdensprache beigebracht. Ich hatte dann immer den direkten Vergleich: das deutsche Wort und dazu die Gebärde. So wie jedes bilinguale Kind aufwächst. Außerdem haben meine Eltern mit mir auch in ihrer ganz persönlichen Lautsprache gesprochen. In dieser Sprache, die für Außenstehende schwer zu verstehen ist, beantworten Doreen und Jörg Sommer auch die Fragen im Interview.

„Ich möchte nur mal eben klarstellen: Wir können sehr wohl sprechen.“

Jörg Sommer

Er schmunzelt, als er das sagt. Seine Mimik ist ausdrucksstark.

KASPAR: Haben Sie eigentlich schon als Kind die Gebärdensprache gelernt? War das in den 1960ern in der DDR schon üblich?
Jörg Sommer: Meine Eltern konnten keine Gebärdensprache, ich habe das erst im Kindergarten gelernt. Ich habe auch sehr spät mit der Lautsprache angefangen. Im Kindergarten hatten wir damals eine Sprachlehrerin, mit der wir Übungen gemacht haben, wie man Worte ausspricht oder betont. Wir mussten uns an den Kehlkopf fassen, um zu spüren, wie es sich anfühlt, die Laute auszusprechen.
Julia: Ich kenne diese Sprache meiner Eltern von klein auf und dadurch verstehe ich sie. Das war einmal sehr komisch, da war ich noch ein Kind. Ich dachte, meine Eltern können normal Deutsch sprechen, wenn sie ihre Stimme benutzen. Als eine Freundin zu Besuchwar und meine Mama etwas zu uns beiden gesagt hat, hat mich die Freundin fragend angeguckt: „Was hat sie zu uns gesagt?“ Und ich zu ihr: „Hast du nicht zugehört?“.

KASPAR: Wie hast du dich gefühlt, als du realisiert hast, dass deine Eltern gehörlos sind?
Julia: In der Schule hat es angefangen, dass ich gemerkt habe, dass es etwas Besonders ist. Es hat mich auch ein bisschen stolz gemacht. Andererseits wollte ich es auch nie an die große Glocke hängen. Ich wollte nicht damit angeben. Es war völlig selbstverständlich, dass ich mit meinen Eltern so spreche.

Julia Sommer zeigt die Gebärde für „Kind gehörloser Erwachsener"
Die Gebärde für „Kind gehörloser Erwachsener"

KASPAR: Es heißt immer, dass Kinder von Gehörlosen früh für ihre Eltern übersetzen und Verantwortung übernehmen müssen. War das bei euch so?
Julia: Tatsächlich war das so. Bei sehr wichtigen Gesprächen helfen auch heute noch meistens die Großeltern, etwa wenn es um die Ratenzahlungen für das Haus ging. Aber in alltäglicheren Situationen, wenn wir mal eben schnell zum Arzt mussten, hab ich schon übersetzt. Ich hab auch früh ein Gefühl für meine Umgebung entwickelt: Wo genau sind meine Eltern, können sie mich sehen? Ich wollte immer wissen, wo meine Eltern sind, weil ich ja nicht nach ihnen rufen konnte.

KASPAR: Hattest du deshalb das Gefühl, in deiner Kindheit eingeschränkter zu sein als andere Kinder?
Julia: Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, mehr Freiheiten zu haben. Dadurch, dass meine Eltern nicht hören können, musste ich zu Hause nie leise sein. Und meine Freunde haben sich immer gefreut, wenn ich Geburtstag gefeiert habe, weil wir nachts noch laut sein durften, da es niemanden gestört hat. Ich habe heute auch noch kein Gefühl dafür, was zu laut ist, das merk ich in meiner WG.

KASPAR: Wie nehmen Sie, Frau oder Herr Sommer, eigentlich das Klingeln der Haustür oder des Telefons wahr?
Jörg Sommer: Früher gab es dafür keine Hilfsmittel. Meine Eltern mussten mich immer wecken, damit ich nicht zu spät zur Schule kam. Später, das war noch zu DDR-Zeiten, habe ich mir selbst einen Wecker gebaut, der mit einer Lampe verbunden war. Ich bin gelernter Mechaniker. Die Lampe hat geleuchtet, wenn der Wecker geklingelt hat. Nach dem Mauerfall gab es dann Lichtblitz-anlagen für die Haustürklingel. Es gibt inzwischen auch Rauchmelder für Gehörlose, die blitzen, wenn er anschlägt. Und heute hat das Handy eine App, die ebenfalls blitzt, wenn eine Nachricht oder eine E-Mail eintrifft.

KASPAR: Stimmt es, dass es erst seit kurzem eine App gibt, mit der Gehörlose einen Notruf absetzen können?
Jörg Sommer: Ja, vor der App gab es nur ein Notruf-Fax, das man ausfüllen und abschicken musste.

KASPAR: Ein Fax?
Jörg Sommer: Ja. Ich habe noch eins da, das kann ich Ihnen zeigen. Jörg Sommer kramt ein Fax-Formular aus seinen Unterlagen hervor und hält es in die Kamera.
Julia: Ich empfand das immer als eine Frechheit: In Deutschland gibt es circa 80.000 Gehörlose. Und für die gab es nur dieses Fax. Wie soll man ein Fax schicken, wenn man gerade einen Herzanfall hat oder wenn man einen Einbrecher im Haus bemerkt?
Jörg Sommer: Heute gibt es auch einen Knopf, den man bei sich trägt, von dem man einen Notruf absetzen kann.

KASPAR: Gebärdensprechende geben Emotionen viel mehr Gewicht als es Menschen mit Gehör machen. Stimmt diese Beobachtung?
Jörg Sommer: Ja. Wenn man in der Gebärdensprache eine Emotion rüberbringen will, muss man es sehr deutlich in der Mimik zeigen. Zum Beispiel, wenn man ein Machtwort spricht. Etwa wenn Julia früher im Supermarkt noch Überraschungseier an der Kasse wollte. Dann gehen die Augenbrauen ganz tief runter.
Doreen Sommer: Ich bin sowieso sehr nah am Wasser gebaut. Das merke ich auch, wenn ich mir einen Spielfilm anschaue. Wenn ich eine traurige Szene sehe, fühle ich viel stärker mit als Hörende. Ich spiele die Emotionen dann selbst nach, unterbewusst, um alles noch besser mitfühlen zu können.
Jörg Sommer: Filme zu verstehen, funktioniert aber nur, wenn es Untertitel gibt. Ohne Untertitel weiß ich nicht, worum es in der Szene geht, und kann sie dadurch nicht richtig mitfühlen.
Julia: Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sind sehr wenig Filme untertitelt. Und längst nicht alle Nachrichtensendungen sind übersetzt.

Julia Sommer zeigt die Gebärde, um eine schwierige Kommunikation zu beschreiben
Die Gebärde, um eine schwierige Kommunikation zu beschreiben

KASPAR: Julia, seit diesem Wintersemester leitest du einen Gebärdensprachkurs an der Hochschule Ansbach. Wie ist es dazu gekommen?
Julia: Tatsächlich haben mich meine Freunde motiviert, den Kurs anzubieten. Weil Menschen es immer spannend finden, wenn ich sage, dass meine Eltern gehörlos sind. Dadurch, dass ich die Gebärdensprache beherrsche, kommen Fragen wie: „Wie zeigt man meinen Namen in der Gebärdensprache?“ Sowas hat mir immer Spaß gemacht.

KASPAR: Es nehmen 20 Studierende am Kurs teil, rund 40 befinden sich auf der Warteliste. Wie erklärst du dir diese große Nachfrage?
Julia: Ja, das finde ich krass. Ich denke, es ist reizvoll, eine Sprache zu lernen, die nicht durch den Mund geht und nicht hörbar ist, sondern die man einfach mit den Händen spricht. Vielleicht ist es auch der Reiz des Besonderen.
Jörg Sommer: In Amerika können sehr viele Hörende die Gebärdensprache, anders als in Deutschland. Die Nachrichten dort werden fast immer mit Dolmetscher gezeigt.
Doreen Sommer: Die Gebärdensprache ist auch gar nicht so einfach zu lernen, wenn man keine Gehörlosen kennt, um die Sprache zu praktizieren. Man braucht viel Übung und Wiederholungen, bis man es kann.

KASPAR: Fällt dir das auch bei den Studierenden im Kurs auf, Julia?
Julia: Auf jeden Fall. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist für Leute, wenn man eine Frage stellt, auch fragend zu schauen. Die Hälfte der Studierenden lächelt dabei. In einem Gespräch ist das super verwirrend, wenn die Mimik nicht zu dem passt, was du sagst. In der Gebärdensprache ist es häufig so, dass die Mimik entscheidet, ob ein Satz eine Frage, eine Aussage oder ein Befehl ist.

KASPAR: Du bist von Berlin nach Franken gezogen. Gibt es in der Gebärdensprache eigentlich auch Dialekte?
Julia: Die gibt es tatsächlich. Genauso wie sich die französische von der englischen Gebärdensprache unterscheidet. Ich habe eher die Berliner Gebärdensprache drauf und hier unten in Bayern ist das ganz anders. Ich versuche den Studierenden die bayerischen Gebärden beizubringen. Ich lerne durch den Kurs selbst viel Neues. Die Wochentage kann ich jetzt auch auf Bayerisch. Sonntag sind in Bayern die betenden Hände, so wie in dem Emoji. In Berlin machen wir das anders: Da geht man mit der flachen Hand von der Brust Richtung Bauch. Das ist übrigens auch dieselbe Gebärde wie für das Verb mögen.

KASPAR: War es eine große Veränderung für Sie, als Julia nach Ansbach gezogen ist?
Doreen Sommer: Wir vermissen Julia. Mir fehlt eben oft die Meinung von jemandem, der hören kann, zu bestimmten Themen.

„Man erfährt viel durch Hörensagen und das fällt bei Gehörlosen komplett weg.“

Doreen Sommer

Ich habe häufig Schwierigkeiten bei längeren Briefen, die ich bekomme.
Julia: In der Gebärdensprache wird viel in Stichpunkten gedacht. Es gibt keine Artikel und der Satzbau ist nicht wie im Deutschen. Dadurch ist es für Gehörlose sehr anstrengend, lange Texte zu verstehen. Besonders Kommata mögen meine Eltern gar nicht.
Jörg Sommer: Es ist immer hilfreich, wenn Julia dazukommt und Texte abgekürzt übersetzt, damit wir sie verstehen. Doreen Sommer: Früher konnte ich Julia immer fragen: „Was steht da, was muss ich machen?“. Es fehlt der direkte Austausch mit der Hörenden-Welt.

Interview: Carolin Grausam, Foto: Finn Höske