„Ich muss leben. Ich kann nicht aufgeben“

Hier leben seit Jahren Geflüchtete, an die kaum mehr jemand denkt. Die Geschichte von Roza Kahlid, die mit 19 aus Äthiopien kam und heute 26 ist. Ist sie inzwischen angekommen?

Portrait der Protagonistin Roza Kahlid
Roza Kahlid, 26, Sozialpflegerin

Äthiopien 2014, Grenzgebiet zum Sudan. Ihre braunen Sandalen sind schnell kaputt gegangen. Das seien keine guten Sandalen gewesen, sagt Roza Kahlid. Nur die einfachen, die schnell kaputt gehen, wenn man viel laufen muss. Barfuß sei sie gelaufen. Die Schleuser, sagt sie, hätten ihr den Weg gezeigt. So sei es die ganze Nacht hindurch gegangen.

Bergauf.
Bergab.
Durch Wälder.
Über Geröll.
Alles im Dunkeln.

Nur drei Lichtkegel wie Hoffnungsschimmer in der Nacht. Die Taschenlampen der Schleuser.

Heute, acht Jahre später, sagt Roza Kahlid, das, was sie erlebt habe, sei unvergesslich. Erst wenn sie sterbe, könne sie aufhören, daran zu denken. Doch all das sei gottgewollt.

Mit 15 oder 16 habe sie ihn in der Schule kennengelernt. Mit 17 habe sie ihn geheiratet. Aus Liebe. Sie sei dann zu ihm in die Stadt gezogen. Zweieinhalb Stunden Fußmarsch vom Heimatort entfernt. Niemand in ihrer Familie habe ein Auto gehabt.

Tagsüber habe sie Brot und Kaffee verkauft, nachts habe der Mann Demos organisiert. Für Gerechtigkeit. Das Beste für sein Land habe er gewollt, sagt sie. Sie habe immer bei ihm sein wollen. Deshalb sei sie mitgekommen zu den Demonstrationen, seinetwegen. Das Gesicht mit einem Tuch verhüllt. Wenn die Polizei kam, seien alle gerannt. Gerannt. Gerannt. Ganz schnell. Bis nach Hause oder hinter den nächsten Baum, um sich zu verstecken.
Natürlich habe sie Angst gehabt, habe ihren Mann aber nicht abgehalten. Sie habe richtig gefunden, was er getan habe. Er habe fortführen wollen, was sein Vater begonnen habe, sagt Roza Kahlid. Den Kampf gegen die äthiopische Regierung, die bis 2019 fast 30 Jahre lang von der sogenannten Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker gestellt wurde. Sein Vater und sein Bruder hätten für diesen Kampf ihr Leben gelassen.

Bericht von Amnesty International, 28. Oktober 2014:
,,In nur drei Jahren (zwischen 2011 und 2014) wurden über 5000 Mitglieder der Oromo Ethnie inhaftiert, weil sie angeblich in Opposition zur Regierung stehen. Zu den Inhaftierten gehören friedlich Protestierende, Studierende, Mitglieder von Oppositionsparteien und Menschen, die bloß ihre Zugehörigkeit zu den Oromo und deren kulturelle Identität betonen.
Grundlage der Festnahme sind die weit formulierten Gesetze, wie das Anti-Terrorismus-Gesetz, das 2009 in Kraft trat. Viele der Inhaftierten werden aber auch über Monate ohne Anklage festgehalten, ohne jemals eines Vergehens angeklagt zu werden. Regelmäßig werden Menschen auf Polizeistationen, in Gefängnissen oder Militärlagern gefoltert.“

Für den Namen des Mannes habe wohl jemand Geld bekommen, glaubt sie. Die Polizei sei eines Abends gekommen und habe ihn mitgenommen. Ins Gefängnis. Von dort sei er wieder ausgebrochen. Das Gefängnis sei nur ein Haus aus Holz gewesen, bewacht von Menschen mit Waffen. Dann habe die Polizei bei ihr vor der Tür gestanden. „Du weißt, wo er ist“, habe ein Polizist gesagt. „Nein.“
Die Polizisten hätten die Mutter ihres Mannes geschlagen, sagt Roza Kahlid. Sie selbst sei verhaftet worden.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Bescheid vom 27.03.2017:
„Die Inhaftierung der Antragstellerin ist auf keine politische Aktivität ihrerseits zurückzuführen. Vielmehr wurde sie verhaftet, weil ihr Mann aus dem Gefängnis entflohen war. Sie selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie Probleme mit den Sicherheitsbehörden, obwohl sie mehrfach an Demonstrationen teilgenommen hat. Die polizeilichen Maßnahmen knüpfen nicht an eine durch das Asylrecht geschützte Eigenschaft an.“

Im Gefängnis seien Dinge passiert, über die sie heute nicht mehr sprechen will. Nur soviel: „Viel Gewalt und so. Vieles erlebt.“ Das verfolge sie bis heute.

BAMF, Bescheid vom 27.03.2017:
Dass es zu Vergewaltigungen in äthiopischen Gefängnissen kommen kann, ist durchaus möglich, doch die durch die Antragstellerin beschriebenen Vorfälle erscheinen als maßlos übertrieben. Laut ihrer Aussage sind alle jüngeren Frauen von Wachleuten vergewaltigt worden. Sie alleine in 2 Wochen ca. von 10 Personen. Bei einer solchen Intensität stellt sich die Frage, was die Wärter anderes gemacht haben in ihren Schichten als die Insassinnen zu vergewaltigen.

Sie habe aus dem Gefängnis fliehen können. Schutz bei einem Bauern gefunden. Dann habe es kein Zurück mehr gegeben. Nur noch einen Weg: raus aus Äthiopien. Mit dem Schleuser bis zum Grenzgebiet zum Sudan. In der Nacht weiter zu Fuß, in Sandalen. Bei Anbruch des Tages habe sich die Gruppe im Wald versteckt. Abwarten.

Abends sei ein LKW gekommen. Es sei weitergegangen Richtung Khartum, Sudan.

80 bis 100 Menschen seien sie wohl gewesen, die sich im Schutz der Dunkelheit in den kleinen LKW gedrängt hätten, sagt Roza Kahlid. Einer habe sich hingesetzt, die Beine von sich gestreckt, zu einem V geformt. Der nächste habe zwischen den Beinen des Hintermanns gesessen.

„Menschen wurden nicht mehr behandelt wie Menschen, sondern wie Tiere. Selbst Tiere werden besser behandelt.“

Ein Schleuser habe Brot in die Menge geworfen. Wer sich beschwert habe, sei mit einem Plastikstock geschlagen worden.

„Jeder hat in diesen LKW Pipi und Kacka gemacht.“ So sei das die ganze Nacht, den ganzen Tag und noch eine Nacht gegangen, bevor sie in der Früh die sudanesische Hauptstadt erreicht hätten. Im Lager habe es gestunken. Urin und Stuhl haben noch an Körper und Kleidung gehaftet. Am zweiten Tag habe sie das Lager verlassen können. Duschen. Endlich das Wiedersehen mit ihrem Mann. Er sei schon gleich nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis in den Sudan geflohen. An dieses Wiedersehen habe sie nicht mehr geglaubt. Sie sei sich sicher gewesen, dass einer von beiden sterben würde, sagt Roza Kahlid.

„Das macht mich so traurig. Wir haben so viel ums Überleben gekämpft. Und dann sagt man uns: Da ist doch gar nichts! In Äthiopien ist alles gut. Warum sollten wir dann diese Scheiße durchmachen und nach Deutschland fliehen?“

BAMF, Bescheid vom 27.03.2017:
„Es ergeht folgende Entscheidung:
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt.

  1. Der Antrag auf Asylanerkennung wird abgelehnt.
  2. (…)
  3. Die Antragstellerin wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen.“

Sudan, Grenzgebiet zu Libyen. Nun weiter mit ihrem Mann.

Drei Pick-Ups von Toyota hätten auf sie gewartet, um mit ihnen weiterzufahren. Es seien Polizeiautos gewesen. Schleuser mit Waffen hätten sie gefahren. Sie hinten auf der Ladefläche, 25 Menschen auf jedem der Pick-Ups. Ob die Schleuser Polizisten waren? Schwer zu sagen, sagt Roza Kahlid.
Es geht durch die Wüste. Das Wasser habe nach Benzin geschmeckt. Die Schleuser hätten es ihnen aus Benzinkanistern gegeben. Sie hätten trotzdem getrunken. Sie hätten einen Mitreisenden im Wüstensand begraben.
Sie hätten nach drei Tagen ein Lager in Libyen erreicht. Drei Monate sei sie dortgeblieben, sagt Kahlid.

Spaghetti in Salzwasser gekocht. Jeden Tag. Nichts tun. Abwarten. Man habe sich unterhalten, seine Geschichte erzählt oder sich einfach nur angeschaut, sagt Kahlid. In der Nacht habe sie nicht schlafen können, wie kann man vom Rumsitzen auch müde werden?
Die Schleuser hätten den Wind und das Wasser beobachtet. An welchem Tag genau sie aufgebrochen sind, weiß sie nicht mehr. Das Meer war riesig. So etwas habe sie nur aus Büchern gekannt, sagt Roza Kahlid. Die äthiopische Heimat grenzt nicht ans Meer. Und sie habe Äthiopien nie verlassen.
Zwischen 80 und 100 Menschen seien in dem Schlauchboot gewesen. Der Motor sei zu schwach gewesen, das Boot sei zurückgekehrt zur libyschen Küste.

Der Schleuser habe sie wieder losgeschickt. Der Motor sei doch okay.
Europa. Sie erreichen die Seegrenze von Italien. Der Motor des Bootes sei ins Meer gefallen. Sie hätten die Nummer der Seenotrettung gewählt.
„Wo seid ihr genau?“
Das habe niemand genau gewusst.
Warten. Hoffen.

„Wir haben viel gekämpft, aber jetzt ist es zu Ende, dachte ich. Wenn meine Mutter das hört… Was macht sie, wenn ich gestorben bin? Oder erfährt sie es gar nicht? Wenn sie jahrelang meine Stimme nicht mehr gehört hat, weiß sie, dass ich gestorben bin?“
Am Abend ein Schiff aus Deutschland.

Endlich.
Einen Abend später sind sie in Italien. Neue Schleuser. Flucht über Österreich, diesmal im Zug.

München. Weiter ohne Schleuser.
Zirndorf, Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber Nordbayern.
Frankfurt.
Zurück nach Zirndorf.
Hannover.
Fürth.
Ansbach. In Ansbach kommt sie in die Gemeinschaftsunterkunft.

Karte zeigt Europa und den nördlichen Teil Afrikas. Eingezeichnet ist Rozas Fluchtrute von Äthiopien nach Deutschland. Sie führt durch Nordafrika, über das Mittelmeer durch Italien bis nach Deutschland.

Bayerisches Staatsministerium des Innern:
„Eine Duldung erhalten Ausländer, die Deutschland verlassen müssen, deren Abschiebung aber insbesondere aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (…). Sie stellt keinen Aufenthaltstitel dar und begründet daher auch keinen rechtmäßigen Aufenthalt.“

In der linken Ecke des Zimmers habe ein Esstisch gestanden. Daneben ein Sofa und der kleine Kühlschrank. Das Bett vor dem Fenster, ein Schrank, die Kommode mit dem Fernseher. Die Schuhe in der anderen Ecke. In der Mitte des Raumes der kleine Sofatisch. So habe sie die ersten vier Jahre in Deutschland gelebt, sagt Kahlid. Gemeinsam mit dem Mann. Auf der Etage in der Gemeinschaftsunterkunft sind 14 Zimmer. Ein Badezimmer für die Frauen, eines für die Männer. Jeweils zwei Toiletten, zwei Duschen.

Jeden Monat wird die Duldung verlängert. Dann alle drei Monate.
Warten. Hoffen. Verlängerung.

Sie ist 19 Jahre alt, als sie wieder die Schule besucht. „Man darf nicht aufgeben. Egal, ob man krank oder glücklich ist.“ 2018 schafft sie den Mittelschulabschluss. Am selben Tag sei ihr Schwangerschaftstest positiv gewesen. Da sei sie das letzte Mal richtig glücklich gewesen, sagt Roza Kahlid. Im März 2019, als der Sohn geboren wird, bekommen sie ein zweites Zimmer.

Urteil des Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach, eingegangen am 26. Juni 2019 (unter anderem für die Anerkennung als Asylberechtigte):

  1. Die Klage wird abgewiesen
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens

Sie wird weiterhin geduldet. Hat keine Papiere, deshalb kann man sie nicht abschieben. Ein Leben in Drei-Monats-Schritten. Der Sohn ist anders als andere Kinder. Er schaut einem nicht in die Augen. Reagiert nicht auf Ansprache. Schlägt sich selbst.
Die Ärzte diagnostizieren Autismus.
Das Kind braucht Therapie.

„Wird er sie auch bekommen, wenn wir nach Äthiopien abgeschoben werden? Ich muss leben. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann nicht schwach sein. Ich muss leben und kämpfen.“

2021 schließt sie die Ausbildung zur Sozialpflegerin ab. Note: 3.
„Ich will Krankenschwester werden. Das ist mein Traum.“ Sie liebe die Arbeit mit alten Menschen. Die Alten haben viel geleistet. Jetzt sei es an der Zeit, ihnen zu helfen.

BAMF, Bescheid vom 11.02.2022:
„Im Asylverfahren ergeht folgende Entscheidung: Das Abschiebeverbot liegt hinsichtlich Äthiopien vor.“

Die Aufenthaltserlaubnis gilt für ein Jahr. Jetzt hat sie eine eigene Wohnung. Nach sieben Jahren in der Gemeinschaftsunterkunft. Am Ende ging dort ihre Liebe verloren.
Roza Kahlid hat mit ihrem Führerschein begonnen, damit sie eine Stelle in der ambulanten Pflege anfangen kann.

„Ich möchte wirklich glücklich werden. Echt.“

Ob sie in Ansbach, in Deutschland, bleiben darf, weiß sie nicht.

Roza Kahlid riecht an dem pinken Tuch, welches ihr einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist.
Ein Tuch ist das einzige Erinnerungsstück an ihre Mutter. Sie hat sie seit ihrer Flucht nicht mehr gesehen

Autorin: Sophie Neukam, Foto: Maria Siepmann, Finn Höske